Zwei Beispiele zur Durchführung einer Diagnostik bei Verdacht auf LRS
Um die Kinder und Jugendlichen so wenig wie möglich durch Diagnostiken zu belasten, nutzen wir die in den Berliner Schulen jahrgangsbezogen durchgeführten Hamburger Schreibproben (HSP). Da jedoch das Lesen und Schreiben in einer engen Korrelation zu betrachten sind, erweitern wir die Diagnostik noch durch einen Lesetest. Beides zusammen ermöglicht uns einen guten Einblick in die aktuelle Entwicklungslage bzgl. des Lesens und (Recht-)Schreibens. Das Ergebnis könnte eine kombinierte (LRS) oder auch eine isolierte Beeinträchtigung (nur eine Lese- oder Rechtschreibschwäche) sein. Entscheidend ist auf jeden Fall, mittels der Diagnostik den Startpunkt und die „Tiefe“ der Förderung zu erkennen, um die Kinder und Jugendlichen von Anfang an weder über- noch zu unterfordern.
In der Tat existieren frühe Anzeichen einer möglichen LRS. Neben allgemeinen Entwicklungsrückständen zählen hierzu vor allem Schwierigkeiten im Bereich des Spracherwerbs und des Umgangs mit Sprache wie z.B. dem auffallend späten Sprachbeginn oder auch Schwierigkeiten, die die Kinder beim korrekten Sprechen und Verstehen von Wörtern und Sätzen haben.
So unterschiedlich die Ausprägungen sind, so unterschiedlich sind auch die Ursachen dafür, von der Störung der Sprachwahrnehmung bis hin zu einer chronischen Mittelohrentzündung. Selbst Aspekte des sozialen Umfeldes können hier eine entscheidende Rolle spielen.
Schwierigkeiten beim Erkennen und Bilden einfacher Wortreime und Silben als Anzeichen für die Entwicklung des sog. phonologischen Bewusstseins werden bei vier- bis sechsjährigen Vorschulkindern häufig als Indizien für eine zukünftige Lese-Rechtschreib-Schwäche wahrgenommen. Ebenso kann auch das verlangsamte Benennen von Begriffen für auf Bildern Dargestelltes ein Anzeichen sein.
- Der Start des Lesens und Schreibens beginnt in der Schule, wo schnell sichtbar wird, wenn die Kinder beim „lautierenden Lesen“ und „lautgetreuen Schreiben“ verharren.
- „Offensichtliche“ Fehlentscheidungen wie bei der Verschriftlichung des Wortes „kommen“ ohne doppelten Konsonanten bieten einem lese-rechtschreibschwachen Kind oder Jugendlichen keinen Anlass, seine Rechtschreibstrategien zu überdenken.
- Auch das immer wiederkehrende unterschiedliche Verschriftlichen ein und desgleichen Wortes stellt eine sehr häufige Fehlentscheidung dar.
- Das Unverständnis für die Unterschiede bei den Anfangsbausteinen „wider“ und „wieder“ zeigen u.a. auch den immer noch fehlenden Zugang zu sprachlichen Bedeutungen.
- Selbst sehr offensichtliche Ableitungen wie „Bäume“ von „Baum“ bereiten den lese-rechtschreibschwachen Kindern und Jugendlichen lange Zeit große Schwierigkeiten.
- Das Lesen wird mit zunehmendem Alter immer schwieriger, weil die anfangs recht einfachen Texte noch auswendig gelernt werden können, was in den höheren Klassenstufen unmöglich ist.
- Die Kinder zeigen offensichtlich nur sehr wenig Interesse am Lesen und Schreiben. Bei einigen Schülern führt dies zur Ablenkung der eigenen Person oder auch der Mitschüler, z.B. durch Zwischenrufe, Clownerien etc.
Symptome und Auswirkungen einer LRS bei Kindern und Jugendlichen
Ohne eine ausführliche Diagnostik ist eine Festlegung auf eine LRS unmöglich. Trotzdem gibt es Anhaltspunkte für eine erste Orientierung. Da eine Aufzählung der Symptome nie vollständig sein kann, beschränken wir uns hier auf die Aspekte, die häufig benannt werden.
Checkliste Rechtschreibstörung
- Ihr Kind schreibt von sich aus so gut wie nie und empfindet auch keinen Spaß daran?
- Das Schreiben wirkt im Wesentlichen angespannt/verkrampft?
- Die Schrift ist sehr klein und kaum lesbar?
- Ihr Kind weigert sich, die Schreibschrift zu erlernen?
- Verwechselt Ihr Kind beim Schreiben ähnlich aussehende Buchstaben wie b/d, p/q oder u/n?
- Kommt es häufig zur Verwechslung ähnlich klingender Laute wie b/p, d/t oder g/k?
- Wird die Reihenfolge der Buchstaben in einem Wort vertauscht? Aus „ein“ wird plötzlich „nie“, aus „sie“ wird „sei“?
- Lässt Ihr Kind gerne einzelne Buchstaben aus wie z.B. bei „Katze“, die zur „Kate“ wird?
- Oder fügt Ihr Kind überflüssige Buchstaben ein wie z.B. bei „Kunde“, das zu „Krunde“ wird?
- Schreibt Ihr Kind das gleiche Wort in einem Text in vielen unterschiedlichen Varianten?
- Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Kind die Rechtschreibregeln nicht beachtet und vielfach Fehlentscheidungen bei der Groß- und Kleinschreibung auftreten?
- Nutzt Ihr Kind beim Schreiben einen deutlich eingeschränkten – subjektiv Sicherheit schaffenden – Wortschatz?
Checkliste Lesestörung
- Ihr Kind mag grundsätzlich nicht gerne lesen?
- Hat Ihr Kind „Startschwierigkeiten“ beim Vorlesen?
- Liest Ihr Kind eher Buchstaben als die Buchstaben in Silben?
- Lässt Ihr Kind beim Vorlesen einzelne Wortteile oder Worte aus?
- Ersetzt oder verdreht Ihr Kind Buchstaben, Wörter und Wortteile?
- Rät Ihr Kind eher, als das es liest?
- Werden einzelne Buchstaben im Wort oder einzelne Wörter im Satz hinzugefügt?
- Wird das gleiche Wort im Text immer wieder unterschiedlich vorgelesen?
- Das Lesetempo Ihres Kindes ist insgesamt sehr langsam oder extrem schnell und überhastet, damit die einzelnen Fehlentscheidungen nicht so gut nachvollziehbar sind?
- Ihr Kind liest stockend und mit Wortwiederholungen?
- Beim Lesen verliert Ihr Kind die Zeile im Text und betont nicht richtig?
- Ihr Kind kann den Inhalt eines gelesenen Textes nicht/nur unvollständig beschreiben und Zusammenhänge darin nicht erkennen?
- Ihr Kind mag das Fach Mathematik, doch scheitert es stets an Textaufgaben?
- Die Zensuren für die mündliche Mitarbeit und die schriftlich zu erledigenden Aufgaben liegen weit auseinander?
Mögliche Anzeichen für eine Verzögerung in der Lese- und Schreibentwicklung können sein:
ZU BEGINN DER ERSTEN JAHRGANGSSTUFE
- Zahlen und Buchstaben können nicht auseinandergehalten werden, zumal die Buchstabenkenntnis sehr gering ist.
- Die phonologische Bewusstheit ist nur bedingt ausgebildet.
NACH DEN ERSTEN DREI MONATEN:
- Häufig werden nur ein- bis zweisilbige Wörter genutzt. Mehrsilbige Wörter können nicht in Sprecheinheiten gegliedert werden.
- Eine Silbe, die aus einem Vokal und Konsonant besteht, kann aufgrund des Klangs nicht in Buchstaben aufgelöst werden.
AM ENDE DER ERSTEN JAHRGANGSSTUFE
- Die sog. Phonem-Graphem-Korrespondenz (Beziehung von Laut und verschriftetem Buchstaben) ist nur unzureichend ausgebildet.
- Die Verbindung mehrerer Buchstaben zu einer Silbe (Synthese) wird noch nicht beherrscht.
AM ENDE DER ZWEITEN JAHRGANGSSTUFE
- Wörter werden noch so geschrieben, dass sie kaum lesbar und nur bedingt verständlich sind.
- Bei einem standardisierten Rechtschreibtest ist der Prozentrang kleiner als 15.
- Beim Lesen gelingt die Synthese von Buchstaben zu einem Wort immer noch nicht altersgemäß.
- Wörter, die schwierig zu erlesen sind, werden ohne Bezug zum Inhalt erraten, ersetzt oder vollständig ausgelassen.
- Das Kind ist so sehr auf das Erlesen der Wörter/Sätze fokussiert, dass es den Inhalt des Textes nicht versteht, weil dieser nur aus aneinandergereihten Wörtern besteht.
IN DEN FOLGENDEN JAHRGANGSSTUFEN
- Die Fehlerquote bei der Verschriftlichung von Wörtern ist deutlich höher als bei den Schulkameraden, sowohl bei ungeübten als auch bei geübten Texten.
- Häufig findet sich auch eine hohe Fehlerzahl beim Abschreiben von Texten.
- Die Schrift ist oft sehr klein, unrund und nur schwer lesbar.
- Rechtschreibregeln können nur selten umgesetzt werden.
- Bei standardisierten Tests im Lesen und Schreiben wird nur ein Prozentrang kleiner als 15 erreicht.
- Auslassungen, Verwechslungen, Umstellungen von Buchstaben und Silben sind je nach Betroffenheit mehr oder minder ausgeprägt.
- Das Tempo beim stillen Lesen ist langsam, häufig begleitet durch langanhaltendes lautsammelndes Lesen
- Unlust und Startschwierigkeiten beim Vorlesen zeigen sich unabhängig vom Textinhalt.
- Das laute Vorlesen bleibt auch weiterhin von Wiederholungen, Stockungen und das Verlieren der Zeile begleitet.
- Vertauschen, Auslassen oder Hinzufügen von Wörtern im Satz oder von Silben bzw. Buchstaben in den Wörtern sind auch beim Lesen wahrzunehmen.
- Ersetzen von Wörtern durch ein in der Bedeutung ähnliches Wort
- Beim Lesen kann der Sinn des Textes so lange nicht altersangemessen entnommen werden, so lange das Lesen „Schwerstarbeit“ für das Kind darstellt.
Die Hinweise auf das Vorliegen einer Lese-Rechtschreibschwäche sind weder als vollständig, noch als ausschließlich zu betrachten. Bei besonders Betroffenen können diese und andere Verhaltensweisen bis ins Erwachsenenalter anhalten. Aus diesem Grund ist stets eine individuelle Diagnostik sinnvoll.